Plädoyer für die ehemalige Synagoge Gänserndorf
Autor: Ueli Fischer
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors


Kennen Sie Gänserndorf? Dass der Name dieser Kleinstadt 30 km östlich von Wien
über Niederösterreich hinaus zur Kenntnis genommen wird, liegt an einer hitzigen
lokalpolitischen Diskussion, die in zahlreichen Medien ihren Niederschlag findet.
Dass in Gänserndorf eines der letzten Synagogengebäude Niederösterreichs im
Gedenkjahr 2018 einem Parkplatz weichen soll, löst in der Öffentlichkeit
Unverständnis und Empörung aus. Die lokalen Behörden wollen den Abriss unter
Ausschöpfung aller Rechtsmittel möglichst noch in den Sommerferien durchsetzen.
Als Eigentümerin eines Gebäudes, das keinen Schutzstatus geniesst, sieht sich die
Gemeinde legitimiert, ohne äussere Einmischung nach eigenem Gutdünken zu
handeln.
Vor Achtzig Jahren wurden in der Reichspogromnacht im ganzen Deutschen Reich
jüdische Geschäfte, Wohnungen, Friedhöfe und Synagogen systematisch zerstört.
Allein in Wien fielen der konzertierten Aktion 21 Synagogen zum Opfer.
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 bildete den Auftakt zur Verfolgung und
Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich.
Gänserndorf bildete eine Ausnahme. Hier vollzog sich die Auslöschung der jüdischen
Gemeinde und Synagoge 1938 friedlich
‚durch offizielle Schlüsselübergabe an die
Gendarmerie’
, wie Ida Olga Höfler in der jüdischen Kulturzeitschrift ‚David’ 2001
schrieb. Das Synagogengebäude blieb erhalten und wurde nach dem Zweiten
Weltkrieg der Israelitischen Kultusgemeinde zurückerstattet. Da es in Gänserndorf
nach dem Zweiten Weltkrieg aber keine jüdische Bevölkerung mehr gab, wurde die
1890 von Jakob Modern entworfene Synagoge an die Gemeinde verkauft. Das
Gebäude diente nach verschiedenen Umnutzungen zuletzt als Jugendzentrum.
Bauliche Veränderungen an den Fassaden führten zur Banalisierung der Architektur
und technische Untersuchungen bestätigen den mässigen baulichen Zustand. In
ihrer 2017 verfassten Diplomarbeit an der Technischen Universität Wien analysierte
Danijela Ratkovic die Baugeschichte der Synagoge Gänserndorf und stellte sie in
den historischen und ortsbaulichen Kontext.
Das Gebäude liegt an der Bahnhofstrasse, die als Verbindung von Bahnhof und
Dorfkern den wirtschaftlichen Aufschwung von Gänserndorf in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts markiert. Trotz geringer Gebäudehöhen erhielt die Bahnhofstrasse
durch die geschlossene Bauweise und beidseitige Baumreihen ein urbanes Gepräge.
Als einziges Gebäude rückt die Synagoge von der Baulinie ab und markiert mit einem
eingezäunten Vorhof ihre öffentliche Funktion. Das Rabbinerhaus wurde im
rückwärtigen Teil des tiefen Grundstücks errichtet.
Angesichts des drohenden Abbruchs stellen sich zwei Fragen:
Erstens: Gibt es gute Gründe für einen sofortigen Abbruch?
Selbstverständlich entsteht beim Erhalt des Gebäudes ein beträchtlicher
Sanierungsbedarf mit Kostenfolge. Ebenso gilt es eine neue Nutzung zu finden, da
der Jugendtreff in eine andere Lokalität umzieht. Auch die neue öffentliche Nutzung
mündet in Betriebskosten. Als wären die Kosten nicht schon Last genug, drückt das

Gewicht der Vergangenheit – sowohl bei der Umbaustrategie wie auch bei der
adäquaten Umnutzung.
Wie viel einfacher scheint da die Parkplatznutzung. Aber gibt es in Gänserndorf ein
Verkehrskonzept, das die Notwendigkeit von Parkplätzen an gerade dieser Stelle und
zu diesem Zeitpunkt belegt? Die Geometrie des rund 14 Meter breiten Grundstücks
schliesst eine effiziente zweiseitige Parkierung aus. Zudem widerspricht es dem
elementaren städtebaulichen Prinzip der Bahnhofstrasse, die geschlossene, von
Baumreihen begleitete Häuserreihe zu unterbrechen. Die Absicht, ein ortsbauliches
Problem mit einer Baulücke zu lösen, ignoriert die jahrzehntelange Erfahrung vieler
Städte und Ortschaften, wo mit Stadtreparaturen vergangene Fehler aufwändig
korrigiert wurden. Verkehrsberuhigte Ortskerne mit knappem Parkplatzangebot
erweisen sich nach anfänglichem Widerstand des ansässigen Gewerbes häufig als
Erfolgsmodell. Der Abbruch und die Parkplatznutzung bringen somit keinen
nachvollziehbaren Nutzen, fügen der Kleinstadt aber einen ortsbaulichen Schaden
zu.
Zweitens: Gibt es gute Gründe für den Erhalt?
Beim ehemaligen Synagogengebäude handelt es sich um ein physisches Zeugnis
Österreichischer Geschichte, auf das nicht nur die Bewohner von Gänserndorf mit
gutem Grund stolz sein dürfen. Das mag in den Ohren vieler Zeitgenossen zynisch
klingen. Einige werden dem dürftigen Bestand jegliche geschichtliche Relevanz
absprechen. Andere möchten dem harmlosen Gebäude eine Erinnerungslast
aufbürden, die es kaum tragen kann.
Dazu einige auch persönlich gefärbte Gedanken.
Der Bau der Synagoge macht einen wichtigen Abschnitt der Österreichischen
Geschichte sichtbar. Die Revolution von 1848 legte die Basis für die
Niederlassungsfreiheit und freie Berufswahl der Juden. Bereits das Toleranzpatent
von 1781 hatte den Juden die Niederlassung auf dem Land erlaubt. Das
Staatsgrundgesetz von 1867 setzte die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden
umfassend fest. Die darauffolgende Wirtschaftsblüte resultierte aus dem intensiven
wirtschaftlichen und geistigen Austausch zwischen verschiedensten
Glaubensrichtungen. Paradoxerweise wurde es den Juden in dieser Phase
zunehmender Säkularisierung dank steigendem Wohlstand erst möglich, Synagogen
zu bauen.
Das Klima der sozialen Toleranz im Oesterreich der Jahrhundertwende wird
beispielsweise durch Martha Nowak-Modern verbürgt. Sie ist die Enkelin des
Architekten Jakob Modern und langjährige Literaturrezensentin der Neuen Zürcher
Zeitung. In den 1970er Jahren erzählte sie ihrem Enkel, dem Schreibenden, von ihrer
Jugend im Wien der Jahrhundertwende. Jakob Modern wie auch dessen Sohn
Richard hatten als Architekten vom Recht der freien Berufswahl Gebrauch gemacht.
Beide führten ein bürgerliches Leben, in dem das Judentum in erster Linie als
kulturelle Zugehörigkeit verstanden wurde. Martha Modern besuchte an der Wiener
Albertgasse im Realgymnasium den ersten Klassenzug für Mädchen. In ihren
Lebenserinnerungen schreibt sie:
‚Unsere Klasse teilte sich genau in drei Teile:
ebenso viele Katholikinnen, Protestantinnen und Jüdinnen. Von irgendwelchen
Spannungen unter den Gruppen konnte keine Rede sein.’

Die auffindbaren Nachkommen von Jakob Modern leben in England, den Vereinigten
Staaten, der Schweiz und Österreich. Wohl allen ist bis zum heutigen Tag bewusst,
dass sie ihr Leben einer geglückten Emigration verdanken. Dieses kollektive
Familienwissen teilen sie mit Millionen Menschen rund um den Erdball. Ebenso
präsent ist aber eine familiengeschichtliche Verbundenheit mit dem weltoffenen
Vorkriegs-Österreich. Auch wenn darin Verklärung liegt, ist die Bedeutung dieser
österreichischen Geschichtsphase für die Modernen Gesellschaften des Zwanzigsten
Jahrhunderts unbestritten. Fokussiert sich der Blick auf die jüdischen Architekten und
Synagogenbauer dieser Zeit, wird eine intensive Wechselwirkung mit nichtjüdischen
Baukünstlern sichtbar. Die jüdischen Architekten verloren aber mit der
systematischen Zerstörung der Synagogen einen wichtigen Teil ihrer
Wirkungsgeschichte.
Niemand behauptet, dass die Synagoge Gänserndorf zu den herausragenden
Werken österreichischer Architektur zählt. Trotzdem repräsentiert dieses
bescheidene Gebäude eine fast untergegangene und bald vergessene Baukultur.
Dieser Bezug rechtfertigt ein Innehalten des lokalpolitischen Aktivismus und den
Verzicht auf den Abriss. Mit dem Verzicht wird ein bescheidener Beitrag zum
österreichischen ‚MAGA’-Projekt möglich. ‚Make Austria great again’ – beispielsweise
indem an eine zukunftsfähige Vergangenheit erinnert wird mit Erneuerung statt mit
Zerstörung.